Von Hanzi zu Quốc Ngữ – Die Schriftgeschichte Vietnams

Die lange Dominanz der chinesischen Schrift

Bis ins 20. Jahrhundert war die Schriftsprache Vietnams stark vom klassischen Chinesisch (Văn ngôn) geprägt. Nach der Han-Eroberung im 2. Jahrhundert v. Chr. wurde die chinesische Verwaltungssprache zum offiziellen Medium in Gerichtsbarkeit, Verwaltung, Gelehrtenkultur und Religion. Der Zugang zur Bildung war damit an die Kenntnis der klassischen chinesischen Schriftzeichen (chữ Hán, auch als Hán tự 1 bezeichnet) gebunden und für große Teile der Bevölkerung kaum erreichbar.

Innerhalb dieses sinosphärischen Rahmens entwickelte Vietnam mit der Zeit eigene Aussprachen, stilistische Konventionen und Kommentarliteratur. Die Schriftzeichen wurden mit sino-vietnamesischer Lautung (Hán-Việt) gelesen. Ab dem 10. Jahrhundert entstand darüber hinaus mit Chữ Nôm ein eigenständiges Schriftsystem, das über die Verwendung klassischer Zeichen hinausging und erstmals die gesprochene Sprache in Schriftform übertrug.

1. Văn ngôn (klassisches Chinesisch in Vietnam)

Vietnamesische Gelehrte schrieben direkt in klassischem Chinesisch (mit traditionellen Hanzi), wie es in China verwendet wurde.

Beispiele:

  • (Hán tự: học 🔊) = lernen, Studium
  • (Hán tự: quốc 🔊) = Land, Nation
  • (Hán tự: dân 🔊) = Volk

Diese Zeichen wurden mit vietnamesischer Aussprache gelesen (Sino-Vietnamesisch, „Hán-Việt“), behielten aber ihre chinesische Bedeutung und Schriftform.

Chữ Nôm – das indigene Schriftsystem

Chữ Nôm 🔊 bestand aus klassischen Hanzi 🔊 und eigens geschaffenen Zeichen zur Wiedergabe von vietnamesischen Lauten und Begriffen, die im Chinesischen nicht vorkamen. Diese Zeichen waren meist Kombinationen aus einem Laut- und einem Bedeutungsbestandteil, also sogenannte Laut-Bedeutungszeichen – ein Prinzip, das auch im Chinesischen üblich ist.

Đoạn Trường Tân Thanh, 1. Seite einer Ausgabe von vor 1930

Chữ Nôm ermöglichte erstmals die vollständige Verschriftlichung vietnamesischer Dichtung und religiöser Texte in einer Form, die sich stärker an der gesprochenen Sprache orientierte. Berühmte Werke wie das Đoạn Trường Tân Thanh (besser bekannt als Kim Vân Kiều) von Nguyễn Du wurden in dieser Schrift verfasst. Das Werk gilt vielfach als Nationalepos Vietnams.

Die Beherrschung von Chữ Nôm war jedoch komplex und und trotz ihrer kulturellen Bedeutung blieb die Verwendung auf eine kleine Elite beschränkt. Erst mit der Ankunft portugiesischer und französischer Missionare im 17. Jahrhundert kam ein grundlegender Wandel: Sie führten ein neues Schriftsystem auf lateinischer Basis ein – das Quốc Ngữ.

2. Chữ Nôm (indigenes vietnamesisches Schriftsystem)

Rein vietnamesische Wörter wurden mit modifizierten oder neu erfundenen Hanzi-Zeichen geschrieben. Diese Zeichen wurden teils neu kombiniert oder anders gelesen:

Existierende Hanzi mit neuer Lesung:

  • 埃 (chin. āi, „Staub“) → Nôm: ai 🔊 („wer?“)
  • 沒 (chin. , „untergehen“) → Nôm: một 🔊 („eins“)
  • 別 (chin. bié, „trennen“) → Nôm: biết 🔊 („wissen“)

Neu geschaffene Phonosemantika:

  • Trời („Himmel“) 🔊 = 天 + 上 → 𡗶
  • Là („sein“) 🔊 = 口 + 羅 → 𦉘
  • Cá („Fisch“) 🔊 = 魚 + 古 → 𩵜

Das lateinische Quốc Ngữ

Quốc Ngữ 🔊 („Nationale Schrift“) wurde zunächst für die Missionsarbeit entwickelt. Der Jesuit Alexandre de Rhodes standardisierte in seinem Werk Dictionarium Annamiticum Lusitanum et Latinum (1651) die Umschrift des Vietnamesischen mit lateinischen Buchstaben und diakritischen Zeichen zur Markierung von Tönen und Lautvarianten.

Im 19. Jahrhundert wurde Quốc Ngữ zunehmend von der französischen Kolonialverwaltung gefördert. Ab 1918 wurde sie Pflichtschrift im Bildungswesen. Mit der Durchsetzung von Quốc Ngữ im 20. Jahrhundert verschwand Chữ Nôm weitgehend aus dem öffentlichen Gebrauch und überlebte nur noch in bestimmten religiösen und literarischen Kontexten.

3. Quốc Ngữ (lateinisches Alphabet)

Mit Quốc Ngữ wurde das Vietnamesische auf Basis lateinischer Buchstaben verschriftlicht. Diakritische Zeichen markieren Töne und Lautvarianten.

Beispiele:

Diese Schreibweise ist heute in ganz Vietnam gebräuchlich und erleichtert das Lesen und Schreiben erheblich.

Gegenwart und kulturelle Erinnerung

Heute ist die lateinbasierte Quốc-Ngữ-Schrift die alleinige Amtsschrift Vietnams. Sie wird in allen Bereichen verwendet und gilt als besonders lernfreundlich und effizient im Schriftspracherwerb. Ihre einfache Erlernbarkeit trug entscheidend zur Alphabetisierung im 20. Jahrhundert bei.

Gleichzeitig ist das Wissen um Chữ Nôm stark zurückgegangen. Nur einige Tempelinschriften, Gedichtmanuskripte und religiöse Texte sind in dieser Schrift überliefert. Wissenschaftliche Institute und Universitäten bemühen sich seit den 1990er Jahren verstärkt um die Dokumentation und Digitalisierung dieser Quellen. An einigen Hochschulen, etwa in Hanoi oder Huế, wird Chữ Nôm im Rahmen von Sinologie und Literaturforschung weiterhin gelehrt.

Sprachsystem: Aussprache im modernen Vietnamesisch

Das Vietnamesische ist eine Tonsprache mit sechs Tonverläufen im Norden (Hà Nội) und fünf im Süden (Ho-Chi-Minh-Stadt). Diese Töne werden durch diakritische Zeichen direkt im lateinischen Alphabet notiert – eine Besonderheit von Quốc Ngữ.

Beispielsilbe: ma („Geist“, „Mutter“, „Gras“ usw.)

  • ma (neutraler Ton) = Geist 🔊
  • (steigend) = Mutter 🔊
  • (fallend) = aber 🔊
  • mả (steigend–fallend) = Grab 🔊
  • (gebrochen–steigend) = Pferd 🔊
  • mạ (abrupt fallend, glottalisiert) = Reissetzling 🔊

Besondere Laute im Quốc Ngữ:

  • tr: gesprochen wie ein harter „tsch“-Laut, z. B. in trẻ („jung“) 🔊
  • gi (Nordvietnam): meist wie ein weiches s oder z, z. B. in già („alt“) 🔊 ; im Süden eher wie j in „ja“
  • ng: wie das ng in „singen“, auch am Wortanfang möglich, z. B. người („Mensch“) 🔊
  • nh: wie span. ñ oder ital. gn, z. B. in nhà („Haus“) 🔊
  • kh: stimmloser, kehliger Hauchlaut, z. B. in không („nicht“) 🔊
  • đ: stimmhaft wie engl. d, z. B. in đẹp („schön“) 🔊 ; im Gegensatz zum unbetonten d, das im Norden wie z klingt

Diese Besonderheiten machen Quốc Ngữ zu einer präzisen, wenn auch für Außenstehende ungewohnten Schriftsprache. Die diakritischen Zeichen tragen entscheidend zur Unterscheidung gleich geschriebener Silben bei.

Zum Weiterlesen

  • DeFrancis, John: Colonialism and Language Policy in Vietnam. In: Language and Literacy in China, University of Hawai‘i Press, 1977.
    Analyse der französischen Kolonialpolitik und der Einführung von Quốc Ngữ im Spannungsfeld zwischen Kontrolle und Modernisierung.
  • Hannas, William C.: Asia’s Orthographic Dilemma. University of Hawai‘i Press, 1997.
    Vergleichende Darstellung der Schriftsysteme Ostasiens, mit einem Kapitel zu Vietnam und der Ablösung der Hanzi durch Quốc Ngữ.
  1. Hán tự (chữ Hán, 漢字) ist die vietnamesische Bezeichnung für klassische chinesische Schriftzeichen (Hanzi, 汉字). Sie wurden in Vietnam mit sino-vietnamesischer Lautung (Hán-Việt) gelesen und in Verwaltung, Bildung und Literatur verwendet. Der Begriff bezeichnet also dieselben Zeichen wie Hanzi, jedoch aus vietnamesischer Perspektive. ↩︎

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