Entscheidungen ohne Perspektive – Kili-Island und Bikini

Bikini-Serie – Folge 3

Die Entscheidung, das kleine, isolierte Kili-Island zum neuen Zentrum der Bikiner zu machen, fiel aufgrund fehlender realer Alternativen. Andere mögliche Atolle waren bewohnt oder unterlagen fremder Oberhoheit. Kili war leer, unbedeutend, aber auch ungeeignet.

Kili hat keine Lagune, keine schützende Bucht, kaum landwirtschaftlich nutzbares Terrain. In sechs Monaten des Jahres sind Fischfang und Bootsverkehr wegen hoher Brandung nahezu unmöglich. Die Neuansiedlung war von Anfang an durch Fragen begleitet: Wie lange werden wir bleiben? Was sollen wir essen? Wer trägt Verantwortung? Die Erschöpfung war nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch. Viele Überlebensstrategien, die auf der Struktur von Bikini beruhten, ließen sich auf Kili nicht übertragen.

Leben im Provisorium

Kopraproduktion in französisch Polynesien. Kopra ist das getrocknete Fruchtfleisch von Kokosnüssen

Der Alltag auf Kili war von Abhängigkeit geprägt: Lebensmittel mussten importiert, medizinische Hilfe angefordert, einfache Mobilität organisiert werden. Die Bevölkerung blieb auf Versorgung durch Außenstehende angewiesen. Ein kurzzeitig eingerichtetes Satellitendorf auf Jaluit konnte wegen Taifunschäden nicht gehalten werden.

Auch der Versuch, durch Kopraproduktion eine wirtschaftliche Grundlage zu schaffen, scheiterte immer wieder an logistischen Problemen. Das Schiff, das diese Transporte sichern sollte, sank, Versorgungslücken wurden zeitweise durch Luftabwürfe überbrückt.

Sozialer und spiritueller Bruch

Die bikinische Kultur, ihre Verbindung zu Land, Meer und Ahnen, ließ sich auf Kili nicht fortsetzen. Einige ältere Bewohner sahen in der Insel einen früheren königlichen Begräbnisplatz, also einen Ort mit spiritueller Last. Aus der Hoffnung auf Rückkehr wurde eine Perspektivlosigkeit, aus dem Exil ein Dauerzustand. Bald fiel das Wort „Gefängnis“ für Kili.

Die wirtschaftliche und soziale Struktur der Gemeinschaft veränderte sich grundlegend. Statt kollektiver Arbeitsformen etablierte sich eine von Hilfsgeldern und Warenimporten geprägte Lebensweise, die die traditionelle Selbstversorgung ablöste. Kulturelle Autonomie wurde durch logistische Abhängigkeit ersetzt.

Die Rückkehr nach Bikini

Ab Ende der 1960er-Jahre rückte Bikini wieder ins Blickfeld der US-Regierung. Neue Messungen ließen hoffen, dass eine Rückkehr möglich sein könnte. Präsident Lyndon B. Johnson versprach öffentlich die Wiederbesiedlung und sprach von einem „Modell für die Zukunft“. Doch die politischen Versprechen standen auf einem unsicheren Fundament.

1968 wurde mit dem Wiederaufbau begonnen, Häuser errichtet, Gärten angelegt. Drei Familien wagten den Schritt zurück. Nach Jahren des Exils erschien die Heimkehr als Erlösung. Die Bewohner tranken das Wasser, aßen Kokosnüsse und Pandanusfrüchte. Zunächst hieß es, alles sei sicher. Die Erleichterung war groß.

Doch die wissenschaftlichen Aussagen waren widersprüchlich. Politische Absichten, technische Expertise und Wissenslücken mischten sich. Als in den 1970er-Jahren neue Messungen deutlich erhöhte Strahlenwerte nachwiesen, begann das Vertrauen zu bröckeln. Die empfohlene Höchstzahl an täglich zu verzehrenden Kokosnüssen – nur eine – wirkte wie ein hilfloses Eingeständnis der Ungewissheit.

„Poison“ – Strahlung und Sprache

Sikorsky SH-3G Sea King bei der Strahlungsmessung über Bikini, 1978

In den Aussagen der Bikiner taucht für Strahlung immer wieder der Begriff „poison“ auf. Es ist ein Versuch, eine unsichtbare Gefahr sprachlich zu fassen, denn die meisten der Betroffenen konnten die wissenschaftlichen Debatten nicht durchblicken, die ein großes Maß an Fachwissen voraussetzten. Die Erklärungen der US-Behörden wechselten zwischen Beschwichtigung und Warnung. Am Ende stand ein erneuter Exodus.

Die Äußerungen älterer Bewohner offenbaren den Kontrollverlust: Man sei nicht in der Lage, die Aussagen zu prüfen. Man müsse hoffen, dass die Amerikaner die Wahrheit sagten. Misstrauen und Ohnmacht überlagerten die anfängliche Zuversicht.

Evakuierung und politische Strategien der Entschädigung

Nach einem Bericht des Department of Energy beschloss die US-Regierung 1978 die erneute Evakuierung des Archipels, da die Strahlenbelastung als deutlich höher eingestuft wurde, insbesondere durch Caesium-137 in den Lebensmitteln. Die Bewohner wurden hauptsächlich zurück nach Kili und teils nach Ejit im Majuro-Atoll gebracht.

Fische werden gesammelt, um sie auf Strahlenbelastung zu prüfen, 1978

Nach dem zweiten Rückzug von Bikini begann eine neue Phase: Die der Kompensationen, Klagen und Stiftungen. Über mehrere Fonds wurden Entschädigungen gezahlt, teils pauschal, teils zweckgebunden. Gleichzeitig bemühte sich der Rat der Bikiner um alternative wirtschaftliche Perspektiven: der Aufbau eines Tauchtourismus, die Idee eines Atommülllagers, die Forderung nach vollständiger Dekontamination.

Wissenschaftliche Expertisen und politische Interessen prallten dabei wiederholt aufeinander. Die vollständige Abtragung der obersten Erdschicht wurde aus ökologischen Gründen abgelehnt, eine partielle Reinigung empfohlen. Für viele Bikiner war dies ein unzureichendes Angebot: zu wenig Sicherheit, zu wenig Kontrolle über das eigene Schicksal.

Erinnerung, Verantwortung, Zukunft

Bikini steht heute exemplarisch für ein strukturelles Versagen der Informationspolitik. Technisches Wissen wurde vermittelt, ohne Rücksicht auf das Verständnis und die Erfahrungen der betroffenen Gemeinschaft. Die Menschen wurden vertrieben und hatten auch keinen Zugang zu den Entscheidungen über ihre eigene Zukunft. Ihre Geschichte verweist auf ein dauerhaftes Spannungsverhältnis, in dem technische Versprechen auf soziale Wirklichkeiten treffen und wissenschaftliche Deutungen kulturelles Wissen verdrängen.

Die Rückkehr nach Bikini ist bis heute nicht erfolgt. Die Erzählung der Bikiner gehört heute zu einer globalen Erinnerung an das Atomzeitalter und an jene, deren Lebensräume zu Testgeländen gemacht wurden.

Bikini, 2005

Zum Weiterlesen

  • Jack Niedenthal: For the Good of Mankind – A History of the People of Bikini and Their Islands (Majuro 2001) – Erfahrungsbasierte Darstellung mit zahlreichen Interviews
  • Holly M. Barker: Bravo for the Marshallese – Regaining Control in a Post-Nuclear, Post-Colonial World (2004) – Ethnografische Analyse der politischen Folgen
  • Catherine Lutz (Hg.): Homefront – A Military City and the American Twentieth Century – Kontextualisierung der US-Militärpolitik und ihrer lokalen Auswirkungen

Bildnachweis

Titel: Helikopter messen Strahlung über dem Bikini-Atoll, 1978.

Kobraproduktion: Wikimedia Commons, Sémhur.

Bikini 2005: Wikimedia Commons, Ron Van Oers.

Alles weitere public domain.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert