In den unwirtlichen Weiten des frühen Van Diemen’s Land, dem heutigen Tasmanien, vollzog sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein bemerkenswertes gesellschaftliches Experiment. Fernab der kolonialen Ordnung erschufen entflohene Sträflinge ihre eigene Welt aus Gewalt, Loyalität und anarchischer Selbstbestimmung. Aus dieser Schar von Gesetzlosen ragte eine Gestalt hervor, die Geschichte schreiben sollte: Michael Howe, ein Mann, der sich nicht damit begnügte, ein gewöhnlicher Bandit zu sein, sondern den Anspruch erhob, als „Governor of the Rangers“ eine alternative Ordnung zu begründen.
Die Genese einer Gegengesellschaft

Van Diemen’s Land befand sich um 1810 noch in den Kinderschuhen seiner kolonialen Entwicklung. Die britische Krone hatte das abgelegene Eiland südlich des australischen Kontinents als Nebenkolonie von New South Wales etabliert. Ein Projekt, das vor allem auf die Schultern deportierter Strafgefangener gebaut war. Diese bildeten das Rückgrat einer Agrarwirtschaft, die weite Ländereien an freie Siedler und privilegierte Beamte verteilte.
Doch das System krankte an seiner eigenen Brutalität. Willkürliche Machtausübung, systematische Gewalt und unmenschliche Arbeitsbedingungen trieben immer wieder Gefangene zur Flucht. Sie suchten Zuflucht in den unzugänglichen Regionen des Westens und Zentrums der Insel, wo sich nach und nach jene Gruppen formierten, die in den Akten der Kolonialverwaltung als „Bushrangers“ geführt wurden. Diese Männer, und gelegentlich auch Frauen, lebten vom Raub, überfielen Farmen und Versorgungskonvois und knüpften ein Netzwerk aus Sympathisanten in den Siedlungen.
Ein gebildeter Rebell mit großen Ambitionen
Michael Howe unterschied sich fundamental von seinen Weggefährten. Der gebürtige Yorkshirer war 1812 wegen Diebstahls zu sieben Jahren Deportation verurteilt und zunächst nach New South Wales verbracht worden, bevor man ihn nach Van Diemen’s Land weiterleitete. Kaum angekommen, entzog er sich dem staatlichen Zwangsdienst und fand Anschluss an eine der Buschbanden.
Was Howe von gewöhnlichen Kriminellen abhob, waren seine intellektuellen Fähigkeiten und sein strategisches Denken. Als einer der wenigen in seinem Umfeld konnte er lesen und schreiben; eine Kompetenz, die er geschickt zur Selbstinszenierung nutzte. Binnen kurzer Zeit übernahm er die Führung seiner Gruppe und begann, sie nach eigenen Vorstellungen zu organisieren.
Howe verfasste eine Art Verfassung für seine Bande und kreierte mit dem „Rangers‘ Oath“ einen schriftlichen Treueschwur, der alle Mitglieder zur unbedingten Loyalität verpflichtete. In einem bemerkenswerten Akt der Selbstermächtigung ernannte er sich zum „Governor of the Rangers“ und beanspruchte damit eine quasi-staatliche Autorität über sein Territorium. Es war der Versuch, aus einer kriminellen Vereinigung eine politische Alternative zu formen.
Krieg in der Wildnis
Howes Herrschaft basierte auf systematischer Gewalt. Seine Bande überfiel Farmen, ermordete Bedienstete und erbeutete Waffen sowie Vorräte. Diese Aktionen dienten nicht nur der Selbstversorgung, sondern auch der Demonstration von Macht – ein bewusster Affront gegen die koloniale Ordnung.

Die Reaktion der Verwaltung ließ nicht auf sich warten und übertraf Howes Brutalität noch. Hohe Belohnungen wurden auf seinen Kopf ausgesetzt, und wiederholt starteten die Behörden groß angelegte Fahndungsaktionen. Doch Howe erwies sich als ebenso geschickt wie unberechenbar. Seine intime Kenntnis des Geländes, gepaart mit einem Netz aus wechselnden Bündnissen, ermöglichte es ihm, sich jahrelang der Gefangennahme zu entziehen.
Selbst innerhalb seiner eigenen Reihen herrschte er mit eiserner Faust. Als Mitglieder desertierten oder gegen ihn zu arbeiten begannen, ließ er sie verfolgen oder tötete sie eigenhändig. Seine Macht beruhte auf Furcht ebenso wie auf Charisma.
Im Jahr 1814 schien sich eine Wende abzuzeichnen. Howe unterzeichnete eine Vereinbarung mit der Kolonialregierung und bot seine Kooperation im Austausch für Straferlass an. Doch das Abkommen war von kurzer Dauer. Howe brach sein Wort und kehrte in die Wildnis zurück, was seine Verhandlungsposition nachhaltig schwächte.
Das Ende einer Ära
Im Oktober 1818 holte die Vergangenheit Michael Howe schließlich ein. Zwei ehemalige Weggefährten, die sich von ihm abgewandt hatten, stellten ihn in seinem Versteck. Einer von ihnen, selbst ein entflohener Sträfling, erschlug ihn mit einem Gewehrkolben. Die Kolonialregierung ließ den Leichnam öffentlich zur Schau stellen, um ein Zeichen zu setzen und den Mythos um den selbsternannten Gouverneur zu zerstören.
Mit Howes Tod endete nicht nur ein individuelles Leben, sondern auch ein singuläres Experiment. Seine hinterlassenen Aufzeichnungen (Briefe, Tagebuchfragmente, seine „Verfassung“) zeugen von einem Mann, der sich weigerte, die ihm zugewiesene Rolle des Unterworfenen zu akzeptieren.
Zwischen Mythos und historischer Realität
Michael Howe war kein Widerstandskämpfer im modernen Verständnis, kein Robin Hood der Südsee. Er war ein Gewalttäter, der andere unterdrückte, Morde beging und Schutzgelder erpresste. Dennoch verkörpert seine Geschichte mehr als nur gewöhnliche Kriminalität.
Seine Biographie illustriert die prekäre Natur der frühen australischen Kolonialgesellschaft, in der staatliche Autorität keineswegs selbstverständlich war. Die Wildnis fungierte nicht nur als Strafraum, sondern auch als Refugium für alternative Lebensentwürfe und temporäre Gegengesellschaften. Howes Versuch, sich als legitimer Herrscher zu etablieren, offenbart die Brüchigkeit einer kolonialen Ordnung, die ihre Außenseiter nicht zu kontrollieren vermochte.
Die spätere Romantisierung der Bushrangers im 19. Jahrhundert verklärt die historische Realität erheblich. In Romanen und Erinnerungen wurde Howe zum prototypischen gesetzlosen Helden stilisiert – eine Deutung, die der komplexen Wahrheit kaum gerecht wird. Doch sein Anspruch auf eine eigene Ordnung jenseits der etablierten Macht verdient durchaus Beachtung: als Symptom einer Gesellschaft im Umbruch und als frühes Beispiel für den Versuch, aus der Verweigerung heraus neue Formen des Zusammenlebens zu entwickeln.

Zum Weiterlesen:
Thomas Wells (1818): Michael Howe – The Last and Worst of the Bush-Rangers of Van Dieman’s Land.
Boyce, James (2010): Van Diemen’s Land – Standardwerk zu Geschichte Tasmaniens.
Bildnachweis
Alle Bilder public domain.