Serie: Küstenreiche – Thalassokratie in der Vormoderne
Antike Begriffsgeschichte

Der Begriff Thalassokratie stammt aus dem Altgriechischen, zusammengesetzt aus thalassa (Meer) und kratein (herrschen). Bereits in der Antike wurde damit eine Form politischer Ordnung bezeichnet, in der die Kontrolle des Meeres eine zentrale Rolle spielte.
In Thukydides’ Darstellung der Frühgeschichte Griechenlands erscheint Minos, König von Kreta und von späteren Chronisten grob ins 15. Jahrhundert v. Chr. datiert, als erster thalassokratischer Herrscher: Er soll die Kykladen erobert, Piraten vertrieben und Seewege gesichert haben. Wenn Thukydides (460–400 v. Chr.) ihn als ersten „Herrn der See“ bezeichnete, lohnt es sich, diese Aussage kritisch zu beleuchten. Dabei steht nicht die Frage im Vordergrund, ob Minos als historische Figur existierte oder nur eine Legende war, sondern ob eine Seeherrschaft Kretas im Sinne einer thalassokratischen Ordnung überhaupt bestand. Ähnliches gilt für die Liste der Thalassokratien, die Eusebius von Caesarea (um 260–340 n. Chr.) zusammengestellt hat.
Kritische Perspektiven auf das Minoische Modell
In der modernen Forschung ist insbesondere die Vorstellung einer minoischen Thalassokratie hinterfragt worden. Chester G. Starr hat bereits 1955 argumentiert, dass es keine archäologischen Hinweise auf eine koordinierte Seeherrschaft Kretas gebe. Weder spezialisiertes Kriegsgerät noch ikonographische Darstellungen stützen die These einer minoischen Kontrolle über die Ägäis. Vielmehr sei diese Vorstellung das Ergebnis klassisch-athenischer Geschichtskonstruktion, die imperiale Seeherrschaft rückwirkend auch in mythischen Epochen verortete.
Der südostasiatische Zugriff: Manguins Differenzierungsmodell
Diese Einsichten haben nicht nur zur Neubewertung antiker Beispiele geführt. Sie haben auch das analytische Instrumentarium für außereuropäische Kontexte geschärft. Für den südostasiatischen Raum hat insbesondere Pierre-Yves Manguin eine differenzierte Beschreibung früher maritimer Ordnungen vorgelegt. Seine archäologisch gestützte Analyse vermeidet vorschnelle Zuschreibungen von „Herrschaft“ im Sinne westlicher Souveränitätsmodelle. Stattdessen betont er die Variabilität lokaler Ordnungsformen und deren Einbettung in weiträumige Austauschsysteme.
Küstenpolities als intermediäre Akteure
Manguin beschreibt frühe politische Zentren Südostasiens, etwa an der Malakka-Straße, in Süd-Sumatra oder entlang der thailändischen Halbinsel, als intermediäre Akteure in einem dynamischen Raum zwischen Indien, China und dem indonesischen Archipel. Diese Siedlungen lagen bevorzugt an Engpässen oder in der Nähe wertvoller Rohstoffe wie Zinn, Gold oder Harzen. Sie kontrollierten keine ausgedehnten Territorien, sondern verfügten über Verbindungen ins Binnenland, zu Ressourcenräumen und zu transregionalen Handelsnetzen. Politische Stabilität beruhte nicht primär auf militärischer Macht, sondern auf der Kontrolle über Zugang und Umlauf, von Gütern ebenso wie von Personen und symbolischen Ordnungen.
Das Beispiel Srivijaya
Ein zentrales Beispiel ist das frühe Srivijaya, das Manguin als lose organisiertes Mandala-System beschreibt. Die politische Integration erfolgte nicht durch dauerhafte Besetzung oder Gewalt, sondern durch rituelle Bündnisse, Prestigegüterverteilung und symbolische Anerkennung einer Zentralmacht in Palembang. Die Inschriften aus dem 7. Jahrhundert belegen die Existenz solcher Loyalitätsbeziehungen. Gleichzeitig fehlt jeder Hinweis auf eine strukturierte Verwaltung oder ein stehendes Heer, wie es klassische Reiche auszeichnet.

Segmentierte Handelsnetzwerke
Neben diesen symbolisch verankerten Zentren existierten auch segmentierte Handelsnetzwerke. Archäologische Befunde in Südthailand (z.B. Khuan Luk Pat, Khao Sam Kaeo) oder im Klang-Tal in West-Malaysia verweisen auf Siedlungen, die weder Monumentalbauten noch zentrale Institutionen erkennen lassen. Dennoch finden sich Hinweise auf spezialisierte Produktion, etwa von Glasperlen und Eisenwerkzeugen, und auf Einbindung in Fernhandel mit Indien und dem Mittelmeerraum. Ob diesen Orten politische Strukturen im engeren Sinn zugrunde lagen, bleibt offen. Ihre wirtschaftliche Funktion innerhalb maritimer Austauschprozesse hingegen ist gut belegt.
Stadtstaaten mit Flottenmacht im späten ersten Jahrtausend
Im späteren ersten Jahrtausend lassen sich Küstenorte erkennen, die zumindest zeitweise über befestigte Siedlungen, diplomatische Beziehungen und Flottenkontingente verfügten. Beispiele sind Taruma (Westjava), Kedah (Malaysia) oder das späte Srivijaya. Auch hier jedoch bleibt maritime Ordnung geprägt durch situative Bündnispolitik, interne Heterogenität und strukturelle Instabilität. Manguin betont, dass diese Formationen nicht mit kolonialzeitlichen oder frühneuzeitlichen Seeimperien verwechselt werden dürfen.
Idealtypen maritimer Ordnung
Die bisherigen Beispiele zeigen, dass Thalassokratie keine einheitliche Herrschaftsform beschreibt, sondern ein analytisches Raster darstellt, das auf unterschiedliche maritime Machtformationen angewendet werden kann. Drei Idealtypen lassen sich unterscheiden:
Zentralisierte Flottenherrschaften
Diese Form basiert auf einer organisierten Flotte, befestigten Hafenstädten und zumindest temporärer Kontrolle von Seewegen. Beispiele finden sich in der athenischen Seemacht des 5. Jahrhunderts v. Chr. oder im Chola-Reich Südindiens. In Südostasien ist diese Konstellation selten und nur für einzelne Phasen belegt.
Segmentierte Netzwerke
Hier handelt es sich um lose geknüpfte maritime Verbindungen, bei denen keine zentrale Steuerung bestand. Politische Beziehungen waren personalisiert, ökonomische Aktivitäten dezentral. Beispiele finden sich u. a. bei den Bugis oder im westmalaiischen Küstenraum.
Symbolisch-zentrierte Mandala-Ordnungen
Diese Ordnung basiert auf symbolischer Zentralität, ritueller Legitimation und der Anerkennung eines hegemonialen Zentrums ohne territoriale Durchdringung. Srivijaya im 7. Jahrhundert gilt als paradigmatischer Fall. Kontrolle wurde eher durch Prestigegüter, Kultstiftungen und diplomatische Präsenz vermittelt als durch militärische Mittel.
Ausblick auf die Serie
Die folgenden Artikel dieser Reihe greifen konkrete Fallbeispiele auf, in denen maritime Ordnung nicht vorausgesetzt, sondern im jeweiligen historischen Kontext rekonstruiert wird. Die Spannbreite reicht von Srivijaya über die Chola-Flotte bis zu den mobilen Netzwerken der Bugis. Die hier entwickelten Idealtypen dienen dabei als heuristisches Gerüst – nicht als fertige Erklärung.

Zum Weiterlesen
- Pierre-Yves Manguin: The Archaeology of Early Maritime Polities of Southeast Asia, in: Bellwood/Glover (Hg.), Southeast Asia: From Prehistory to History, London 2004. Archäologische Perspektive auf maritime Herrschaftsformen, mit Schwerpunkt auf symbolischer Integration und segmentierten Netzwerken.
- Kenneth R. Hall: Maritime Trade and State Development in Early Southeast Asia, Honolulu 1985. Überblick über Handelsbeziehungen, Stadtstaatenbildung und Flottenaktivität, insbesondere im tamilischen und malaiischen Raum.
- Chester G. Starr: The Myth of the Minoan Thalassocracy, in: Historia 3 (1955), S. 282–291. Klassische Kritik an der Vorstellung einer minoischen Seeherrschaft auf archäologischer Grundlage.
Bildnachweis
Minos: Wikimedia Commons, George E. Koronaios.
Karte Srivijaya: Wikimedia Commons, Gunkarta.
Alles weitere eigene Aufnahmen.