Ein Imperium unter Spannung

Als Aurangzeb im Jahr 1707 starb, war das Mogulreich so groß wie nie zuvor. Doch die territoriale Ausweitung ging mit einer wachsenden inneren Anspannung einher. Während seine Zeitgenossen ihn für seine Disziplin und religiöse Strenge respektierten, wurde er später entweder als fanatischer Unterdrücker oder als tugendhafter Reformer gedeutet. Beide Zuschreibungen greifen zu kurz. Aurangzeb verstand sich als Diener eines göttlichen Auftrags. In der Praxis regierte er als politischer Realist, der religiöse Normen zur Stabilisierung seiner Herrschaft nutzte.
Er wurde 1618 als dritter Sohn Shah Jahans geboren und erhielt eine umfassende Ausbildung in Theologie, persischer Literatur und Verwaltung. Bereits als Jugendlicher übernahm er Gouverneursämter und zeichnete sich durch Effizienz und Loyalität aus. Im Thronstreit nach Shah Jahans Erkrankung setzte er sich 1658 mit militärischer Gewalt durch. Zwei Brüder ließ er hinrichten, den Vater entmachtete er. Der Machtgewinn war nicht nur dynastisch motiviert. Aurangzeb sah sich als Garanten einer Ordnung, die auf Gerechtigkeit und Gehorsam beruhte.
Bedeutende Herrscher des Mogulreichs
Name | Regierungszeit | Bedeutung |
---|---|---|
Babur | 1526–1530 | Begründer des Reichs, Sieg bei Panipat, timuridischer Hintergrund |
Humayun | 1530–1540 / 1555–56 | Verlor das Reich vorübergehend, Rückkehr kurz vor dem Tod |
Akbar | 1556–1605 | Reichseiniger, Verwaltung, religiöse Toleranz, Fatehpur Sikri |
Jahangir | 1605–1627 | Festigung der Strukturen, Förderung von Kunst und Kultur |
Shah Jahan | 1628–1658 | Erbauer des Taj Mahal, Höhe höfischer Kultur |
Aurangzeb | 1658–1707 | Größte Ausdehnung, religiöser Konservatismus, Beginn des Zerfalls |
Weitere Herrscher regierten nach Aurangzeb, meist unter stark eingeschränkter Macht.
Religion als Herrschaftsprinzip

Aurangzebs Religionspolitik unterschied sich in mehrfacher Hinsicht von der seiner Vorgänger. Er berief sich stärker auf islamisches Recht und ließ mit dem Fatawa-i Alamgiri ein umfassendes Rechtskompendium zusammenstellen. Auch wenn er sich regelmäßig mit Gelehrten beriet, war er kein bloßer Vollstrecker theologischer Urteile. Seine Entscheidungen zielten auf politische Stabilität. Moralvorschriften, Kleidungsregeln, Steuerreformen und Verbote von Festen wurden dabei ebenso genutzt wie religiöse Symbole.
1679 führte Aurangzeb die Kopfsteuer für Nichtmuslime wieder ein. Diese Entscheidung war nicht unumstritten und wurde auch im inneren Kreis kritisiert. Er begründete sie als Pflicht eines islamischen Herrschers, die unterschiedlichen Glaubensgruppen nach göttlicher Ordnung zu behandeln.
Sein Umgang mit Andersgläubigen war ambivalent. Auf der einen Seite setzte er zahlreiche Hindus in hohe Ämter ein, ließ lokale Heiligtümer schützen und bestätigte religiöse Stiftungen.
Auf der anderen Seite kam es zu gezielten Tempelzerstörungen. Besonders in Regionen mit politischem Widerstand wie Benares1 und Mathura, beides heilige Pilgerstätten der Hindus, aber auch Zentren von Aufständischen, wurden bedeutende Tempel abgetragen. Diese Akte folgten keiner einheitlichen Ideologie, sondern dienten als Mittel zur Machtdemonstration.
Vergleichbare Eingriffe erfolgten auch gegenüber muslimischen Dissidenten. Die Hinrichtung des Sikh-Gurus Tegh Bahadur im Jahr 1675 erfolgte in einem sicherheitspolitischen Kontext. In der späteren Erinnerungsgeschichte wurde sie zu einem Symbol religiöser Unterdrückung stilisiert.
Militärische Expansion und strukturelle Belastung
Ab den 1680er Jahren verlagerte Aurangzeb den Schwerpunkt seiner Politik auf Südindien. Die Eingliederung der Sultanate Bijapur und Golconda sowie der Kampf gegen die Marathen wurden zum Hauptziel seiner späteren Regierungsjahre. Aurangzeb leitete die Feldzüge persönlich und verlegte dauerhaft den Hof in ein mobiles Lager.

Militärisch waren die Kampagnen zunächst erfolgreich. Die südlichen Reiche wurden besiegt und formal eingegliedert. Doch die Kontrolle über die Region blieb lückenhaft. Der Krieg gegen die Marathen, unter Führung Shivajis (1630-1680) und später seiner Söhne Sambhaji und Rajaram, zog sich über Jahrzehnte hin, führte zu hohen Verlusten und zwang die Zentralregierung zur permanenten Reaktion. Versorgung, Kommunikation und Verwaltung litten unter der Überdehnung. In vielen Provinzen wurden Steuereinnahmen unregelmäßig oder gar nicht mehr an das Zentrum abgeführt.
Die Gewalt der Feldzüge war erheblich. Städte wurden belagert, Festungen zerstört, Zivilisten verschleppt oder zur Kooperation gezwungen. Aurangzeb rechtfertigte diese Maßnahmen mit der Notwendigkeit, Ordnung wiederherzustellen. Gleichzeitig wuchs die Unzufriedenheit unter regionalen Eliten und der städtischen Bevölkerung. Der Krieg wurde zu einer Dauerbelastung, ohne das politische Ziel einer stabilen Integration zu erreichen.
Ordnungsideal und politische Praxis
Aurangzeb war ein religiöser Herrscher, der sich an moralischen Idealen orientierte. Doch seine Politik blieb an die Bedingungen der Verwaltung und die Dynamik der Kriege gebunden. Viele Entscheidungen lassen sich weniger als Ausdruck theologischer Überzeugung verstehen denn als Versuch, Herrschaft zu sichern und Legitimität zu bewahren. Die Einschränkung höfischer Kultur, der Verzicht auf monumentale Bauprojekte oder das Ende repräsentativer Feste waren Teil dieser Strategie.
Sein Selbstverständnis als „Richter der Welt“ stand in scharfem Kontrast zur Realität einer zunehmend instabilen Ordnung. In Briefen klagte Aurangzeb, weder die moralische Reinheit noch die dauerhafte Einheit des Reiches verwirklicht zu haben:
„Ich kam als Fremder und gehe als Fremder. Ich habe meine Seele nicht gerettet“.
Trotz formal ungebrochener Macht sah er sich als gescheitert.
Ein schwieriges Erbe
Die Erinnerung an Aurangzeb ist bis heute politisch aufgeladen. In Indien gilt er vielen als Symbol religiöser Intoleranz, in Pakistan wird er teils als Ideal muslimischer Herrschaft verehrt. Beide Deutungen beruhen auf selektiver Rezeption. Historisch greifbar wird Aurangzeb nur im Kontext seiner Zeit. Seine Herrschaft war ein Versuch, politische Kontrolle mit religiöser Ordnung zu verbinden. Die Gewalt, die er dabei einsetzte, folgte keinem irrationalen Schema, sondern einem funktionalen Kalkül.
Der Preis war hoch. Das Reich war bei seinem Tod territorial ausgedehnt, aber innerlich geschwächt. Die Nachfolger fanden keine stabile Grundlage mehr, um die Einheit zu sichern. Aurangzebs Herrschaft steht am Übergang von der Hochphase des Mogulreichs zur Phase seines langsamen Zerfalls. Nicht wegen eines einzelnen Fehlers, sondern wegen der Summe politischer Entscheidungen, deren Folgen sich erst spät zeigten.

Zum Weiterlesen
- Audrey Truschke: Aurangzeb. The Man and the Myth (Penguin, 2017) – Kritische Einführung in Leben und Nachleben Aurangzebs, mit Fokus auf Quelleninterpretation und Erinnerungspolitik
- M. Athar Ali: The Mughal Nobility under Aurangzeb (Oxford, 1966) – Analyse der Elitenpolitik, Verwaltungsstruktur und Loyalitätsmechanismen
- Munis Faruqui: Princes of the Mughal Empire, 1504–1719 (Cambridge, 2012) – Studie zu den dynastischen Konflikten und politischen Netzwerken innerhalb des Mogulreichs
- Heute heißt die Stadt Varanasi. ↩︎