Aceh nach dem Krieg: Aufstand, Tsunami und ein besonderer Status

Wie gelingt einer Region der Übergang vom bewaffneten Konflikt zu einem verhandelten Frieden. Aceh zeigt seit 2005 eine Antwort. Es ist eine Geschichte von politischen Übereinkünften, Sonderrechten und der Neuorientierung innerhalb Indonesiens

Von der Rebellion zur Verhandlung

Hasan di Tiro, 2022

1976 rief Hasan di Tiro die Unabhängigkeit Acehs aus. Die Bewegung Freies Aceh (GAM) blieb zunächst randständig. Erst in den 1990er Jahren stieg die Unterstützung. Gründe waren das harte Vorgehen des Militärs, Streit um Öl- und Gaserlöse sowie wachsendes Misstrauen in staatliche Institutionen. 1999 demonstrierten Hunderttausende in Banda Aceh. Die Regierung antwortete mit einem Autonomieangebot, aber auch mit mehr Soldaten. 2003 wurde die Provinz zum militärischen Notstandsgebiet erklärt.

Der Konflikt erschöpfte sich. Kommandostrukturen der GAM hielten sich, ohne strategische Aussicht. Die Regierung trug hohe Kosten und erlitt außenpolitische Verluste. Ein politischer Ausweg war dringend – und kam durch ein Naturereignis.

Tsunami 2004. Katastrophe als Wendepunkt

Aceh, nach dem Tsunami 2004

Am 26. Dezember 2004 traf Aceh ein Jahrhundertbeben. Rund 170.000 Menschen starben oder galten als vermisst. Ganze Küstenstreifen wurden ausgelöscht. Für die Kämpfer der GAM ebenso wie für die staatliche Seite war die Katastrophe ein Schock. Internationale Hilfsorganisationen strömten ins Land, was eine stabile Sicherheitslage erforderte. Die Verhandlungsbereitschaft wuchs.

Helsinki 2005. Frieden mit Bedingungen

Abkommen von Helsinki, 2005

Am 15. August 2005 unterzeichneten Vertreter der GAM und der indonesischen Regierung das Abkommen von Helsinki. Aceh erhielt weitgehende Autonomierechte. Die GAM gab ihre Waffen ab. Im Gegenzug zog Jakarta einen Großteil der Truppen ab. Ein EU-Team überwachte den Prozess. Zum ersten Mal durften in der Provinz lokale Parteien gegründet werden.

Die Vereinbarung war keine Rückkehr in den Status quo, sondern ein Systemwechsel. Aus Rebellen wurden Politiker, aus einem Notstandsgebiet eine Provinz mit Sonderrechten.

Institutionen und Sonderrechte

Das Gesetz von 2006 fixierte Acehs Sonderstellung. Es umfasst 26 Befugnisse, die von der Durchführung der Scharia1 über Adatrecht2 und Bildung bis zur Rolle der Ulama reichen. Mit dem Wali Nanggroe wurde eine symbolische Institution geschaffen, die kulturelle Kontinuität sichern soll.

Politisch dominierte zunächst die Partai Aceh. Heute teilen sich nationale Parteien wie Demokrat oder Gerindra die Macht im Regionalparlament. Damit zeigt sich ein schrittweiser Übergang von Bewegungslogik zu normalem Parteienwettbewerb.

Scharia und gesellschaftliche Aushandlung

Seit 2001 gelten in Aceh Qanun-Regeln3 mit religiösem Bezug. Kleidung, Alkoholkonsum oder Glücksspiel unterliegen besonderen Vorschriften. Öffentliches Auspeitschen wurde mehrfach angewandt. Menschenrechtsorganisationen kritisieren Verfahren und Strafmaß, während Befürworter die regionale Eigenständigkeit betonen. Eine stabile Balance hat sich bisher nicht ergeben.

Besonders ist auch das Finanzwesen: Alle Banken in Aceh arbeiten nach Scharia-Prinzipien. Damit unterscheidet sich die Provinz von allen anderen Regionen Indonesiens.

Prügelstrafe, Banda, Aceh, 2014

Vielfalt und Erinnerung

Aceh ist nicht homogen. Neben der dominierenden Gruppe der Aceh gibt es Gayo, Alas, Singkil, Tamiang-Malays, Aneuk Jamee und verschiedene Inselgemeinschaften. Auch Migranten wie Javaner, Batak oder Chinesen sind Teil der Gesellschaft.

Die Jahrzehnte des Konflikts und der Tsunami hinterließen tiefe Spuren. Fast jede Familie hat Opfer zu beklagen. Die Erinnerung bleibt ein Thema von Schulen, Vereinen und religiösen Organisationen.

Bilanz

Der Friedensschluss hat Gewalt beendet. Wahlen und Parlamente ersetzen den Dschungelkrieg. Gleichzeitig ist der Sonderstatus kein einfacher Bonus, sondern eine ständige Aushandlung: zwischen islamischem Recht und nationaler Gesetzgebung, zwischen lokalen Parteien und Jakarta, zwischen wirtschaftlicher Nutzung und Schutz von Ressourcen.


Zum Weiterlesen

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– Edward Aspinall: Islam and Nation. Separatist Rebellion in Aceh, Indonesia.* Analyse der Rebellion und des Friedensprozesses, Standardwerk.
– Michael R. Feener: Shari‘a and Social Engineering. The Implementation of Islamic Law in Contemporary Aceh.* Untersuchung der Scharia-Regelungen seit 2001.
– Anthony Reid: An Indonesian Frontier. Acehnese and Other Histories of Sumatra.* Historische Langperspektive, zentrale Quelle.

Bildnachweis

Titel: Frauensoldaten der Free Aceh Movement mit GAM-Kommandeur Teungku Lah, 1999.

Karte: Wikimedia Commons, TUBS.

Hasan di Tiro: Wikimedia Commons, Rozal Nawafil, S.Tr.IP.

Helsinki-Abkommen: Wikimedia Commons, Dokumen Serambi Indonesia.

Alles weitere gemeinfrei.

  1. Scharia ist das aus dem Koran und der Sunna, also den überlieferten Handlungen und Aussprüchen des Propheten Mohammed, abgeleitete islamische Rechtssystem mit religiösen, ethischen und rechtlichen Vorschriften. ↩︎
  2. Adatrecht bezeichnet das indonesische Gewohnheitsrecht, das auf lokalen Traditionen und Praktiken der jeweiligen Gemeinschaften basiert. ↩︎
  3. Qanun (Plural: Qawānīn) ist ein arabischer Begriff für Gesetz oder Rechtsnorm. Er wird in verschiedenen islamischen Kontexten gebraucht, um säkulare oder spezifische regionale Regelwerke zu bezeichnen. ↩︎

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